In der Musik ist das Einspieldatum der Termin, zu dem ein Konzertmeister mit seinem Symphonieorchester beispielsweise Beethovens 9. Symphonie (opus 125) mit Schillers Ode an die Freude aufgeführt und aufgenommen hat. Zwischen dem Einspieldatum am 1. Januar 2006 und der Uraufführung am 7. Mai 1824 liegen dann annähernd zwei Jahrhunderte.
Unter den Programmierern im Internet, wo der gemeine Mensch meist nur Technikfreaks am Werk wähnt, sind Einspieltermine ebenfalls gebräuchlich. Gerade gestern hat die WordPress-Organisation – die auch die Software für dieses Weblog stellt – offiziell seine neueste Version 2.0 eingespielt. Die Macher dieses kostenfreien Open-Source-Programms halten sich zu Gute, etwas Besonderes herzustellen, mit einem „focus on aesthetics, web standards, and usability“. Auf den Web-Fußleisten der Organisation steht das Motto „Code ist Poetry“ – Programmieren ist Dichtkunst.
Auch die Richter der obersten Bundesgerichte zählen sich zu den Sprachkünstlern. Das lässt sich an den grammatisch zuweilen hoch fragilen Leitsätzen erkennen, welche die Rot-Roben wichtigen Urteilen voran stellen. Sie verlangen dem Leser ein elaboriertes Sprachverständnis ab. Die Richter sind offenbar der Meinung, dass es dem Recht als solchem dient, wenn sie ihre Kernaussagen zu einem Problem in einem Textgebilde zusammen fassen, das nur einen einzigen Punkt als abschließendes Satzzeichen verträgt. Wenn das verstehbar gelingt, ist tatsächlich hohes sprachliches Können am Werk. Es gelingt aber nicht immer. Gleichwohl verwendet auch der Bundesgerichtshof auf seiner Homepage den Begriff „Einspieltermine“ und reiht sich so unter die Künstler ein. Bei seinen Einspielungen indes handelt es sich um neue Urteile und Entscheidungen, die das Gericht im Internet veröffentlicht und damit der Öffentlichkeit erstmals zugänglich macht.
Unter dem Einspieldatum vom 22. Dezember beispielsweise stellten die Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter 18 neue Gerichtsentscheidungen auf die Site des Karlsruher Gerichts. Eine Mitarbeiterin der Pressestelle bestätigte vor ein paar Tagen, dass auch die Journalisten der dort ansässigen Justizpressekonferenz diese Urteile nicht schneller haben.
Der „Einspieltermin“ der Karlsruher BGH-Richter liegt am Ende von drei Verkündungsphasen: Zunächst entscheiden die Richter, ob sie eine Revision ablehnen, annehmen oder ob sie zunächst einen anderen Verfahrensschritt beschließen. Dann wird diese Entscheidung verkündet. Das geschieht fast prinzipiell noch am selben Tag. Anschließend beginnt die Phase zwei, in der die Richter ihr Urteil oder ihren Beschluss formulieren und abschließend alle unterschreiben. Das kann ein längerer Vorgang sein. Vielleicht nicht so lang wie der zwischen der Fertigstellung einer großen Komposition und ihrer Aufführung. Aber manchemal dauert er durchaus Monate. Vor allem der I. Zivilsenat ist für lange Abstimmungsprozesse bekannt. In dieser Phase entstehen bei einigen der Urteile – den so genannnten Leitsatzurteilen – auch die hoch komplexen Sprachgebilde, die dann wie ein Motto am Anfang des Dokuments stehen.
Wenn die Richter unterschrieben haben, geht das Urteil an die Verfahrensbeiteiligten raus, also im wesentlichen an die Rechtsanwälte. Erst wenn von denen jeweils ein „Empfangsbekenntnis“ vorliegt, darf das Urteil auch der Öffentlichkeit zugehen. In der Zwischenzeit läuft Phase drei an: Das Gericht anonymisiert die Urteile. Das ist ein Vorgang, den die obersten Gerichte in anderen Demokratien so nicht kennen. (Selbst die Urteile des Supreme Court der USA oder des amerikanischen obersten Steuergerichts nennen meist die Namen der Parteien und sogar die umstrittenen Geldbeträge; auch die Fassungen im Internet tun das.) Erst wenn die Anonymisierung abgeschlossen ist, kommen die Urteile auf die Homepage des Gerichts. Damit ist auch Phase 3 im wesentlichen abgeschlossen. Kein Wunder, dass die Richter für diesen Vorgang das feierliche Etikett „Einspieltermin“ gewählt haben.
Journalistisches Bloggen ist das exake Gegenteil. Der Einspieltermin deckt sich weitgehend mit dem Zeitpunkt, an dem das Post – so heißen die Texte in Weblogs – entsteht. Zwar geht es beim Bloggen nicht nur um Geschwindigkeit. Auch hier ist Sorgfalt beim Schreiben nötig. Aber die Publikationsform unterscheidet sich von anderen doch grundlegend. Vor allem darin, dass selten eine zweite Instanz existiert, die einen Blick auf den Text wirft, bevor er öffentlich wird. Das führt dazu, dass Formulierungen häufiger mal nachträglich korrigiert werden müssen. Oft zeigt auch erst ein weiterer eigener Blick auf den bereits veröffentlichten Text, dass ein Problem sich mit weniger – aber besseren – Worten klarer umreißen lässt. Für dieses Blog gilt, dass es dann manchmal auch nachträglich zu Korrekturen an bereits publizierten Texten kommt.
Aber der gute Vorsatz dieses Weblog zum Einspieldatum 1. 1. 2006, Null Uhr: dass es möglichst stets die richtige Balance von Aktualität, Wirklichkeits- und Wahrheitsnähe sowie Verstehbarkeit finden möge. Und deshalb viele Freunde. In diesem Sinne wünscht derSteuerdienst.de Ihnen – und sich selbst – ein gutes neues Jahr.